Meine Oma - kein Märchenbuch

Veröffentlicht auf von acron

Man schreibt das Jahr 1955. Noch fahren die Bauern mit Pferdefuhrwerken aufs Feld. Manch einer hat schon einen Traktor. In dem kleinen fränkischen Dorf gibt es nur wenige Geschäfte und wenn man einmal in die Stadt muss, bedeutet das eine Tagesreise mit dem Zug. In der Stadt gibt es ein großes Kaufhaus und so viele Menschen, dass man seinen Augen kaum traut. Nellis Oma schert sich nicht darum, was andere Leute über sie denken. Sie tut, was sie will. Dabei ist sie eine beherzte Frau, die von ihren fränkischen Mitmenschen als wunderlich belächelt und „Lady vom anderen Stern“ genannt wird. Sie klaut Toilettenpapier, fährt per Anhalter, sagt den Leuten ihre Meinung ins Gesicht und verprügelt den Pfarrer. Sie ist Musikerin, hat das absolute Gehör und leidet demgemäß unter falschen Tönen. Darunter hat auch Nelli zu leiden, die von der Oma Geigenunterricht bekommt.
In neun Geschichten, die alle mit „Einmal...“ beginnen, beschreibt Nelli aus ihrer Sicht Kindheitserlebnisse mit ihrer Oma. Sie schämt sich für ihre Oma, doch im Laufe ihrer Erzählungen wird klar, wie sehr sie sie liebt und vielleicht gerade wegen ihrer Art, anders zu sein, bewundert.


Leseprobe

Vorwort - Erzählen

 

Nelli heißt eigentlich Cornelia. Aber schon von Anfang an sagte jeder nur Nelli zu ihr, und sie fragte sich oft, warum man ihr nicht gleich den Namen Nelli verpasst hatte, damals, 1950, als sie geboren wurde. Vielleicht hätte man mit dem Namen geben einfach nur ein bisschen länger warten sollen, bis man sich sicher gewesen wäre, welcher Name am besten passte. Als sie ein Kind war, fuhren die Bauern noch mit Pferd und Wagen auf ihre Felder, und wenige, nur die sehr reichen, hatten schon einen Traktor. Auch gab es noch kaum Autos in dem kleinen fränkischen Dorf. Gerade mal Tausend Seelen, sagten die Leute, wenn sie darüber sprachen, wie klein ihr Dorf war, das dennoch als einziges weit und breit ein eigenes Schwimmbad hatte. Um das Dorf herum gab es nichts als Wiesen, Felder und Wälder, in denen im Sommer wilde Himbeeren, Erdbeeren, und im Herbst Brombeeren Preisselbeeren, Schlehen, und Blaubeeren wuchsen. Auch die gelben Pfifferlinge, die so wunderbar mit Rührei schmecken, wuchsen hier und die Steinpilze mit den glänzend braunen Hüten. Die besten fand man in der Nähe des Baches, der wie eine lebendige Schlange durch den Wald kroch, und Nelli liebte es, mit ihrer Großmutter „in die Pilze“ oder „in die Beeren“ zu gehen. Sie hatte einmal gehört, wie die Nachbarin sich mit dem Gemeindepfarrer unterhielt, und der vom Geist der Finsternis sprach. Nelli stellte sich vor, dass der natürlich nirgends anders daheim sein konnte als im dunklen Wald mit seiner geheimnisvollen Stille und dem sanften Geruch. Alle Geräusche waren hier gedämpft, und wenn sich einige Strahlen der Sonne durch die hohen Nadelbäume schoben, dann beneidete Nelli den Geist der Finsternis und dankte ihm dafür, dass er sie an seiner Welt teilhaben ließ. Sie liebte den Geruch, der einen schon umfing, wenn man den Waldsaum betrat, und Nelli dachte oft, dass der Geist der Finsternis die Menschen mit diesem wunderbaren Duft hinein lockte in seine Welt, damit er nicht so allein wäre, und immer wenn sie den Wald betrat, begrüßte sie ihn, damit er sich freute, und er belohnte sie dafür, indem er sie in einen warmen Mantel von Stille und Zuversicht hüllte. Wie gesagt, Nelli mochte den Wald und hatte gegen den Geist der Finsternis nichts einzuwenden; sie mochte auch ihn und konnte partout nicht glauben, was der Pfarrer sagte, nämlich dass es seine Schuld wäre, dass die Menschen in den Krieg hinein gezogen wurden, bei dem so viele getötet wurden, vor allem die Juden. Nellis Großmutter sagte:

„Hat sich was mit Geist der Finsternis! Der will nur die Verantwortung abschieben. Aber da kommt er nicht raus, der Sauhund und auch die anderen nicht!“ 

Ja, genau so sagte sie. Als Nelli geboren wurde, war der Krieg gerade mal seit fünf Jahren zu Ende. 

„Ein Krieg, den ein Verrückter angezettelt und ein ganzes blödes Volk ausgeführt hat“, sagte Nellis Großmutter. 

Sie war nämlich Jüdin und hatte in einer Nacht- und Nebelaktion mit ihrer Familie das Land verlassen müssen. 

„In der allerletzten Sekunde,“ seufzte sie, wenn Nelli sie danach fragte, „Mädele, in der allerletzten Sekunde sind wir dem Tod von der Schippe gesprungen.“

Und dann schwieg sie stets und wollte nicht mehr weiter sprechen, aber ihr Blick ging weit hinaus in eine Ferne, wo es irgend etwas gab, was sie sah, woran ihr Blick abprallte und zurück geworfen wurde, mitten hinein in ihre Seele. Dann vergaß sie alles um sich herum, sogar Nelli, die ihr „Augäpfelchen“ war, wie sie es nannte. Nelli fragte:

„Was habt Ihr dann gemacht?“

Und ihre Großmutter antwortete:

„Wir sind ausgewandert, mit dem Schiff über den großen Ozean bis nach Amerik. Dort wurden wir von Walter Yaffe, der schon ein Jahr vorher ausgewandert ist, abgeholt. Bei ihm haben wir dann gewohnt.“

„Aber mit dem Schiff, seid Ihr doch nicht gewandert sondern geschwommen!“ rief Nelli erstaunt, und ihre Großmutter antwortete:

„Dummerle, das sagt man so. Außerdem sind wir auch nicht geschwommen. Wir waren nämlich auf dem Schiff und mussten nicht selber schwimmen. Das wäre ja noch schöner mit all den Zoires auch noch schwimmen!“ 

Dann gab sie Nelli einen Nasenstüber, in dem so viel Liebe steckte, wie man es sich nicht vorstellen kann. Walter Yaffe war die Posaune in dem Orchester, in dem auch Nellis Großeltern gespielt hatten. Der Großvater war die erste Geige und Großmutter am Piano. Ohne Walter wären sie damals erst gar nicht hier her gezogen in "dieses Kaff", wie die Großmutter das Dorf nannte. 

„Deshalb war es auch mehr schlecht als recht, dass er sich drüben um uns kümmerte.“ sagte die Großmutter stets, wenn sie mit Nelli darüber sprach.

„Aber Oma, das heißt mehr recht als schlecht!“ widersprach Nelli, und die Großmutter antwortete:

„Nein, Mädele, es war schlecht. Warum mussten wir gehen?“

Und dann wurde sie immer so traurig, dass Nelli fast nicht wagte, weiter zu fragen. Aber sie tat es trotzdem, weil sie ja schließlich etwas wissen wollte. 

„Warum war es schlecht, Oma?“ fragte sie.

Und dann seufzte ihre Großmutter und sagte:

„Basta!“

Wenn sie das gesagt hatte, dann war die Diskussion zu Ende, da konnte Nelli fragen, bis sie „schwarz“ wurde. So sagte jedenfalls ihre Großmutter:

„Ich sag nichts mehr, da kannst du fragen, bis du schwarz wirst.“

Manchmal allerdings sagte sie:

„Alle sind tot, Mädele, alle, die geblieben sind.“

Dann sah Nelli manchmal eine kleine Träne über ihr Gesicht rollen, und Nelli sah der Träne nach. Sie lief an der Nase entlang entweder rechts oder links durch eine der Falten neben dem Mund, die die Mutter Lachfalten nannte und dann über das Kinn. Dort blieb sie meistens eine Weile hängen. Sie zitterte, bevor sie sich langsam löste und dann auf Großmutters Pullover oder Bluse fiel und dort versickerte. Manchmal kam sie gar nicht bis zum Kinn. Dann war sie bereits auf ihrem Weg dort hin im Gesicht versickert. Aber manchmal, sehr selten, sah Nelli zu beiden Seiten der Nase eine Träne rollen, der mit einem Mal viele folgten. In solchen Momenten putzte die Großmutter sich laut die Nase, lächelte wieder und sagte:

„Ah, schau, Mädele, meine Lachfalten kommen von Zoires. Wenn man die zerhackt, kommt ein Schmeichel ins Gesicht.“ 

Zoires waren die Sorgen, und ein Schmeichel war Lächeln. Nelli gefiel das Wort. Aber wenn ihre Großmutter gesagt hatte:

„Alle sind tot, die geblieben sind!“ wollte Nelli nichts mehr fragen, obwohl sie noch sehr viel wissen wollte. Und wenn sie weiter fragte, musste sie selbst weinen, obwohl sie gar nicht wusste, warum. Aber so war es. Großmutter nannte Amerika auch nicht Amerika sondern Amerik. Sie ließ das a am Ende weg, und jedes Mal, wenn Nelli ihr sagte:

„Oma, das heißt nicht Amerik sondern Amerika!“ engegnete die:

„Amerik, sag ich doch!“ und „Basta!“

Nellis Großmutter war eine seltsame Frau. Zumindest sagten das die Leute im Dorf, und Nelli fand, dass sie Recht hatten. Oft schämte sie sich für sie und wunderte sich über das, was sie tat und sagte. Manche Erlebnisse waren so merkwürdig und oft auch so lustig, dass Nelli noch lange darüber nachdenken und manchmal auch lachen musste. Meistens dann, wenn sie abends im Bett lag und nicht sofort einschlafen konnte. Dann betete sie, dass er, dessen Namen man nicht ausspricht, dafür sorgte, dass der nächste Tag gut würde, und ihre Großmutter keinen Blödsinn anstellte, der die Familie zum Gespött machte, wie ihre Mutter es nannte. Und wenn sie dann immer noch nicht einschlafen konnte, kroch sie mit der Taschenlampe auf den obersten Dachboden, wo sie sich „ihr Versteck“ eingerichtet hatte und schrieb die Geschichte auf. Die Fledermäuse, die tagsüber in den Balken hingen, waren ausgeflogen, und ab und zu huschte eine Maus zwischen den gestapelten Kisten und Koffern hindurch, die sich schon lange nicht mehr über den nächtlichen Gast wunderte. Nelli hatte keine Angst vor Mäusen. Sie sagte:

„Hallo Maus!“ und schrieb weiter.

Und wenn sie fertig war, ging sie wieder hinunter in ihr Zimmer und schlief alsbald ein.

 

 

 

Erste Geschichte  - Wünschen

 

Einmal ist meine Oma mit mir in die Stadt gefahren. Ich war damals genau sechs Jahre alt. Das heißt, noch nicht ganz genau, weil ich am nächsten Tag erst sechs wurde. In der Stadt war ein großes Kaufhaus, und da durfte ich mir was aussuchen. Meine Oma hat es nämlich gehasst, wenn man ihr was geschenkt hat, womit sie nichts anfangen konnte oder was ihr nicht gefallen hat. Und deshalb hat sie auch gedacht, dass es jedem Menschen so gehen müsste, wie ihr. Aber das stimmte nicht. Ich hätte mich über eine Überraschung mehr gefreut, auch wenn es dann nicht so der Kracher gewesen wäre. Aber ich war zu feige, es ihr zu sagen, weil man ihr nicht widersprechen durfte. Nicht, dass sie dann böse wurde, oder einen schlug, überhaupt nicht, sie hat einen einfach nur angeschaut, und da hat man alles gemacht, was sie wollte. Ich weiß bis heute nicht, warum das so war, aber so war es. Meine Oma ist also mit mir in die Stadt gefahren. Wir wollten den Zug nehmen, aber der ging nur drei Mal am Tag in die Stadt hinein und dreimal wieder heraus. Den Zug verpassten wir, weil ich so lange gebraucht habe. Das hat zumindest meine Oma gesagt. Aber das stimmte überhaupt nicht. Ich hatte schon ganz lange vor dem Haus auf sie gewartet. Und als sie endlich kam, hat sie mich an der Hand gerissen und ist los gerannt. 

„Komm schnell, Wackele, sonst fährt er ohne uns!“ hat sie gebrüllt und ist losgedüst. Sie hat mich gezogen, weil ich nicht so schnell laufen konnte. Und dann bin ich hingefallen und habe mir das Knie aufgeschlagen. Meine Oma hat nur gesagt:

„Weinen kannst du im Zug! Jetzt haben wir keine Zeit!“

Also habe ich mit dem Weinen gewartet. Mein Knie hat furchtbar gebrannt und geblutet. In der Wunde waren lauter kleine Steine, und ich hätte wirklich gern geweint. Wenigstens ein bisschen. Ich habe es schon fast nicht mehr ausgehalten, aber ich habe mich zusammen gerissen. Trotzdem ist der Zug ohne uns gefahren. Ich war nicht Schuld daran, auch wenn sie es gesagt hat. Meine Oma ist dann mit mir auf die Straße gegangen, um ein Auto anzuhalten. Aber es ist kein Auto gekommen. Ein Heuwagen ist gekommen, den der alte Max, das Pferd vom Bauer Schumann gezogen hat und auf dem Wagen hat Gottwalt, der Knecht vom Bauer Schumann gestanden und gelacht. 

„Brr!“ schrie er, und Max blieb stehen. Gottwalt schrie vom Wagen runter:

„Wo solls denn hingehen, Lady?“ 

Die Leute im Dorf nannten meine Oma „Lady“, weil sie immer gesagt hat, dass sie was Besseres ist als das Gesocks, eben eine Lady. Eigentlich haben sie meine Oma „die Lady vom anderen Stern“ genannt, weil sie wunderlich war. Das hat mir zumindest mal die alte Luberin gesagt, wie ich sie gefragt habe, warum sie meine Oma so nennen. Also, der Gottwalt fragte sie, wo es hingehen soll, und meine Oma rümpfte nur die Nase.

Ihr seid mir zu langsam. Und dann, wo soll man sich denn da hinsetzen?“

„Ins Heu!“ lachte Gottwalt. „Wetten, dass du schon lang nicht mehr mit einem Kerl im Heu warst!“

„Saubär! Wart nur, du wirst schon sehen!“ brüllte meine Oma und zog mich ein Stück die Straße entlang, obwohl es da genau so heiß war, wie an der Stelle zuvor. 

„Wiedersehen Lady! Viel Spaß noch!“

Gottwalt lachte noch lauter, und bevor meine Oma ihm sagen konnte, was es war, was er schon noch sehen würde, war er schon vorbei. Ich habe ihn bewundert und beneidet. Bewundert, weil er im Stehen auf dem Heuwagen das Pferd lenken konnte, ohne hin zu fallen und beneidet, weil er nicht in die Stadt fahren musste wie ich; denn wie ich meine Oma kannte war klar, dass wir heute noch dort hin kommen würden. Eigentlich war ich froh gewesen, dass wir den Zug verpasst hatten, aber jetzt habe ich mir gewünscht, dass wir ihn nicht verpasst hätten. Es war heiß, mein Knie blutete und ich durfte nicht weinen, weil wir noch nicht im Zug waren, und weil ich erst im Zug weinen durfte. Mein einer weißer Kniestrumpf war schmutzig und blutig, und damit er nicht noch blutiger wurde, habe ich ihn runter gerollt. Den anderen habe ich auch runter gerollt, weil meine Oma gesagt hat, dass das blöd aussieht, wenn man einen Kniestrumpf oben und einen unten hätte. Schließlich wäre ich mit einer Dame unterwegs. Sie hatte Dame gesagt, weil sie sich von Gottwalt verspottet fühlte. Ich wollte gar nichts mehr von ihr geschenkt bekommen. Das, was mir gefiel, war ihr eh zu teuer, und das, was ging, gefiel mir nicht. Ich wäre am liebsten nach Hause zurück gegangen und hätte mich in meinen Baum gesetzt und gemalt oder gelesen oder sonst was gemacht. Aber da hielt der Traktor vom Haberdasch vor uns. Am Steuer saß der alte Haberdasch höchstpersönlich und fragte das gleiche wie vorher der Gottwalt. Aber ohne das „Lady“. 

„Dem Zug nach!“ rief meine Oma.

„Der ist doch schon seit zehn Minuten fort!“ gab der Bauer zu Bedenken. Doch meine Oma sagte:

„Macht nichts, junger Mann, fahren Sie!“

Dann sprang sie zu dem Bauern hinauf. Fast hätte sie vergessen, dass ich auch da unten stehe. Ich habe ihr die Arme entgegen gestreckt. Und als ich gerade aufgeben wollte und dachte, dass ich jetzt doch in den Baum kann, hat sie sich umgedreht und geschrien:

„Komm, Mädele, komm! Worauf wartest du denn?“

„Ich komme nicht rauf. Ich schaffe es nicht!“ habe ich gerufen. 

„Schau mich an! Ich bin alt, und du? Du wirst doch wohl noch hin bekommen, was eine alte Frau kann!“ sagte sie. 

Sie hatte wohl vergessen, wie klein ich war und wie kurz meine Beine noch waren. Allerdings musste ich zugeben, dass ich es erst gar nicht versucht hatte. Schließlich hatte ich die Hoffnung, dass wir hier bleiben, noch nicht ganz aufgegeben, obwohl die immer mehr schwand. Denn da stieg der Bauer vom Traktor und hob mich hoch. Er kletterte zurück auf den Fahrersitz und sagte:

„Ich werde mein Bestes tun. Aber den Zug kriegen wir garantiert nicht mehr. Außerdem fahre ich nur bis ins nächste Dorf.“

„Wie, nur ins nächste Dorf? Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?“

Meine Oma war erbost und sprach nun kein Wort mehr mit ihm. Sie sagte mir, was ich ihm sagen sollte, und ich sagte es dann dem Bauern Haberdasch. Meine Oma sagte zum Beispiel:

„Frag ihn, ob er uns zur Hauptstraße bringt, damit wir ein Auto anhalten können!“ Und ich sagte dann zu dem Bauern:

„Meine Oma will wissen, ob Sie uns an die Hauptstraße bringen können, damit wir ein Auto anhalten können.“

„Schon verstanden. Nichts für ungut,“ sagte der Bauer, „ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich muss aufs Feld und kann Sie nicht in die Stadt fahren. Aber zur Hauptstraße bringe ich Sie natürlich.“

Er war wirklich ein sehr netter Mann. Trotzdem hat meine Oma das Wort nicht mehr an ihn gerichtet. Da war sie konsequent. Es war ihr auch egal, ob mir das peinlich war oder nicht. Als wir an der Hauptstraße angelangt waren, wollte er ihr vom Traktor runter helfen. Und da ist sie an ihm vorbei gesprungen, als hätte sie kein Zipperlein, das sie sonst eigentlich immer plagte, und er hat gelacht. 

„Komm Mädchen, spring!“ hat er gesagt, und ich bin ihm in den Arm gesprungen. Er hat mich aufgefangen und auf den Boden gestellt. 

„Viel Spaß noch in der Stadt!“ hat er gerufen und ist davon gerattert. 

Den Zug haben wir nicht mehr gekriegt, aber das war auch nicht mehr so wichtig. Ich musste nämlich gar nicht mehr weinen. Meine Oma hat auf ein Taschentuch gespuckt. Da habe ich das Gesicht ganz schnell auf die Seite gedreht, damit sie es nicht mit ihrer Spucke abwischt, weil das immer so stinkt. Normalerweise hat mir das nichts genützt, sie hat mich immer erwischt, und dann hat mein Gesicht noch stundenlang gestunken, bis ich es abgewaschen oder vergessen habe. Aber diesmal hat sie mir nur das Knie abgeputzt und das Taschentuch dann darum herum gebunden. Das war nicht ganz so schlimm. Nun musste ich nicht mehr weinen, sondern nur noch pinkeln.

„Dauernd musst du pinkeln!“ sagte sie und schüttelte den Kopf. „Da, geh in den Busch!“ sagte sie und schob mich hinein. 

Und wie ich wieder heraus war, hat ein Auto gehalten, um uns in die Stadt mit zu nehmen. Meine Oma hat die Autofahrerin gekannt. Ich auch, es war die junge Frau Hiemer. Hier in der Gegend hat jeder jeden gekannt. Meine Oma hat jedenfalls die ganze Zeit auf die Frau eingeredet und manchmal hat sie mich gefragt:

„Stimmt‘s Mädele? War es so oder nicht?“ 

Ich hatte gar nicht zugehört, weil ich an was ganz anderes gedacht hatte, aber ich habe dann immer genickt und gesagt:

„Stimmt!“ 

Meine Oma hat mir auch immer gesagt, dass man nicht lügen soll und wenn man es tut, dann sollte man es richtig machen. Dann müsste es daher kommen, als wäre es die Wahrheit, sonst glaubte einem keiner, und manchmal reichte es, wenn man selber wüsste, dass es gelogen ist. Wie sie reagiert hätte, wenn ich gesagt hätte: „Weiß ich nicht, hab gar nicht zugehört.“, das kann man sich ja wohl denken. Und es war gerade so friedlich im Auto. Die Frau Hiemer hat geschwiegen, meine Oma hat geredet, und ich hab manchmal „Stimmt“ gesagt. Ein paarmal hab ich gesehen, dass die Frau Hiemer gähnen musste. Sie hat nicht gegähnt. Sie hat es unterdrückt. Dazu atmet man ganz laut durch die Nase ein und wieder aus. Manchmal werden auch die Augen davon klein und nass, als ob man weinen würde. Mein Vater hat gesagt, das kommt davon, weil durch den Druck die Tränensäcke nach oben gepresst würden, und dann laufen die Tränen heraus wie bei einem Luftballon, der mit Wasser gefüllt ist, und wenn man darauf drückt, kommt das Wasser oben raus. Wenn ich so tun wollte, als ob ich weinen musste, habe ich es auch manchmal versucht, aber es war viel einfacher, sich was Trauriges vorzustellen. Also die Hiemerin hat so eine dicke Beule bekommen, die wie ein Sack unter dem Kinn hing und ihre Nasenlöcher hat sie ganz groß gemacht und wie der Max, das Pferd vom Bauer Schumann die Nüstern gebläht. Das passiert, wenn man das Gähnen unterdrückt. Ich hab das manchmal vor dem Spiegel nachgemacht, ohne gähnen zu müssen. Und dann habe ich es gemacht, wenn ich meine Ruhe haben und in mein Zimmer gehen wollte. Denn wenn meine Mutter das gesehen hat, hat sie gesagt: 

„Das Kind ist müde. Kind, wenn du müde bist, dann geh in dein Zimmer und leg dich ein bisschen hin.“

Manchmal, wenn ich gerade aufstehen wollte, hat meine Oma gesagt:

„Woher weißt du, dass sie müde ist? Sie hat nicht einmal gegähnt.“

Dann hat meine Mutter gesagt:

„Weil sie höflich ist. Sie hat es unterdrückt.“

„Was du alles siehst.“ 

Meine Oma hat ihr nicht so richtig geglaubt. Aber dann habe ich es nochmals gemacht und meine Oma hat geschrien:

„Hast du das gesehen? Sie lügt! Wie kannst du auf so eine miese Vorstellung reinfallen?“ 

Und dann wandte sie sich an mich. 

„Du lügst nicht gut genug. Wenn du Schauspielerin werden willst, musst du mehr üben.“

Das tat ich doch. Außerdem, woher wollte sie wissen, ob ich Schauspielerin werden wollte? Konnte man das sehen? So, wie man an der Beule am Unterkiefer und den weiten Nüstern sehen kann, ob einer das Gähnen unterdrückt? Na, auf jeden Fall hat die arme Hiemerin dauernd das Gähnen unterdrückt. Und um sie ein bisschen zu ärgern habe ich so getan, als ob ich schlafe. Und dann bin ich tatsächlich eingeschlafen. Ich habe so gut gespielt, dass es wahr wurde. Das ist mir öfter passiert, so was. Wie ich aufgewacht bin, hat meine Oma mich an den Schultern gerüttelt und wir waren in der Stadt. Dort sind wir erst in ein Café gegangen. Aber nicht, um ein Eis oder sonst was zu essen oder zu trinken, sondern um ein Glas Leitungswasser zu bestellen, was nichts kostete und aufs Klo zu gehen. Dazu haben wir uns sogar an den Tisch gesetzt. Meine Oma ist mit mir an der Hand rein und hat am Tresen gesagt:

„Ich hatte soeben einen Schwächeanfall, ob ich mich vielleicht einen Moment bei Ihnen ausruhen dürfte?“ 

Natürlich durfte sie. Dann bat sie höflich um ein Glas Wasser. Man brachte es ihr und mir was richtig Gutes, nämlich eine Kugel Vanilleeis. Jetzt war meine Oma ein bisschen sauer, weil sie auch gerne eines gehabt hätte, aber wenn es jemandem nicht gut geht, kann er natürlich kein Eis essen. Sie konnte ja nicht einfach sagen:

„Danke, gute Frau, Sie haben mir sehr geholfen. Es geht mir wieder etwas besser, aber noch besser würde es mir gehen, wenn Sie mir ein klitzekleines Kügelchen Eis kredenzen würden.“ 

So drückte sie sich in solchen Momenten immer aus. Das Eis hätte sie nämlich bezahlen müssen. Irgendwann mal musste ich auf die Toilette und sie kam mit. Während ich in der Klokabine saß, packte sie alles ein, was nicht fest geschraubt war bis auf die Klobürsten. Ich fragte sie, warum sie die hier lässt, und sie rümpfte nur die Nase und sagte:

„Ekelhaft!“

Aber das ganze Toilettenpapier, die Seife und die Papierhandtücher hat sie eingepackt und mitgenommen, alles, was für alle, also auch für sie war oder schon bezahlt oder sonst weg geworfen würde, wie sie sagte, und dann sind wir hinaus spaziert. Es ging ihr wieder gut. Und das Toilettenpapier hatte sie in ihrer Tasche dabei. Meine Oma hatte immer eine große Tasche dabei. 

„Da passt viel rein.“ meinte sie.

Sie hatte Recht. Ich habe mich immer darüber gewundert, wie viel in so eine Tasche reinpasst, aber ich habe mich auch immer gewundert, was sie alles da drin hatte. Dann haben wir uns auf den Weg in das große Kaufhaus gemacht. Sie hat mich an der Hand genommen, damit ich ihr nicht verloren gehe und hat sich mit der anderen Hand einen Weg durch die Menge gebahnt. Die Tasche habe ich getragen. Sie war noch nicht schwer, aber leicht war es trotzdem nicht, sie zu tragen, ohne dass sie über den Boden schleifte.

„Aus dem Weg!“ rief meine Oma, bahnte uns den Weg, und die Leute schüttelten den Kopf und lachten. Manche schimpften auch hinter ihr her, aber das machte meiner Oma nichts aus. Einer schrie:

„Was bildest du dir eigentlich ein, du alte Schachtel?“

Und meine Oma hob den Kopf, zog die Luft laut durch ihre Nase ein und schob ihre Unterlippe vor. Dabei bekam sie lauter Falten in der Oberlippe, die so aussahen, als wären sie mit einem Messer hinein geschnitzt worden, und am Kinn hatte sie lauter kleine Dellen, die wie Punkte aussahen. Und plötzlich wusste ich: Das war ein Zeichen Gottes. Ich soll mir einen Ball wünschen. Rot mit weißen Punkten. Allerdings, ein bisschen größer als das Kinn von meiner Oma sollte er schon sein. 

„Oma,“ sagte ich zu meiner Oma, „ich wünsche mir einen roten Ball mit weißen Punkten!“ 

Aber ich wusste nicht, ob sie mich verstanden hatte. Hier in der Stadt gab es so viele Menschen, dass man sich schon wundern musste, dass es auf der Welt überhaupt so viele Menschen gab. Meine Oma meinte, in der Stadt treten die Menschen einander auf die Füße, aber das habe ich nicht gemerkt. Nur meine Oma ist ein paar Mal jemandem auf die Füße getreten, aber das war nicht so angenehm, weil das den Leuten, denen sie auf den Fuß getreten ist, durchaus nicht gefallen hat. Ich bin auch einmal einem Mann auf den Fuß getreten. Ganz fest, weil ich wissen wollte, ob das stimmt, was meine Oma sagt. Aber der hätte mir am liebsten ein paar runter gehauen. Er hat gesehen, dass ich an der Hand von meiner Oma hänge. Und da hat der gesagt:

„Wenn deine Oma nicht dabei wäre, würde ich dir jetzt eine gehörige ranzen!“

Meine Oma sagte:

„Ranzen, was ist denn das für eine Ausdrucksweise?“ und zog mich weiter.

Aber ich wusste jetzt, dass ich mir auch einen neuen Ranzen wünsche. Eigentlich hätte ich den alten von meinem Bruder bekommen, den, den schon unser Cousin Aaron gehabt hatte, weil der noch gut war. Aber warum in drei Teufels Namen, konnte mein Bruder ihn dann nicht behalten, wenn er noch gut war? Nur weil er ins Gymnasium kam? Das war doch kein triftiger Grund. Mein Vater hat immer gesagt, man braucht triftige Gründe, um für eine Sache argumentieren zu können, aber die Erwachsenen machen es sich da, finde ich, immer recht leicht. Ein Gymnasium war für mich kein stichhaltiges Argument. Das war nämlich das nächste, was man brauchte, ein stichhaltiges Argument. Meinte zumindest mein Vater. Also, sei‘s drum ich wünschte mir einen Ranzen. Einen Ranzen und einen roten Ball mit weißen Punkten. Eigentlich war ich jetzt froh, dass ich dem Mann auf den Fuß getreten bin, denn jetzt wusste ich, dass ich mir einen Ranzen wünschte. Außerdem war ich froh, dass meine Oma dabei war, weil mir sonst der Mann tatsächlich eine geranzt hätte. Das wäre natürlich nicht so schön gewesen. Andererseits hätte ich dann doch noch weinen können, und da, wie meine Oma immer sagt, das Weinen die Seele wäscht, hätte ich jetzt schon gerne geweint. Ich wusste zwar nicht, ob meine Seele das jetzt gerade nötig hatte, aber man kann ja nie wissen. Ich habe zwar versucht, zu weinen, aber es gelang nicht so richtig. Und als meine Oma fragte:

„Was ist denn mit dir auf einmal los?“ habe ich nach stichhaltigen Argumenten gesucht und keine gefunden. 

Und als ich eines gefunden hatte, nämlich, dass der Mann mir Angst gemacht hat, weil er mir angedroht hat, mir eine zu ranzen, hat meine Oma schon gesagt:

„Streng dich nicht an, das klappt nicht immer.“ Sie hatte natürlich Recht. Es war ein Geheimnis, warum es manchmal funktionierte und manchmal nicht. Tatsache ist, dass es von Mal zu Mal immer besser ging mit dem Weinen. Es war die Übung.

„Übung macht den Meister,“ sagte meine Oma, „in allen Dingen.“ 

Und natürlich hatte sie auch damit Recht. Sie wusste fast immer, was ich dachte. Und was noch viel wichtiger war, sie wusste fast immer, wenn ich log. Manchmal sagte sie:

„Kind, du musst besser lügen. Nur die perfekten Lügner kommen weiter im Leben. Aber wenn du dich einmal vertust, und sie kommen dahinter, dann hast du verloren.“

Sie hat mir allerdings nie gesagt, wer sie sind. Als ich sie gefragt habe, hat sie nur gesagt:

„Die anderen!“ Und mit Nachdruck: „Man muss sich entscheiden. Und man muss vorher wissen, worauf man sich einlässt. Du kannst jedenfalls nicht behaupten, dass ich dich nicht gewarnt hätte.“

Ich wusste ehrlich gestanden, überhaupt nicht, wovon sie sprach. Aber ich dachte, dass es stimmt, was die Leute immer sagten, nämlich, dass meine Oma verrückt war. 

Jetzt waren wir im Kaufhaus. Ich hatte es gar nicht gemerkt, wie wir rein gegangen sind, weil die Türe offen war. Wenn man bei uns im Dorf eingekauft hat, musste man erst die Türe aufmachen, und dann hörte man eine Ladenglocke. Und wenn man drin stand, kamen die Leute vom Geschäft auch, weil sie die Klingel gehört hatten. Manchmal musste man ein wenig warten, weil die Leute schließlich auch noch was anderes zu tun hatten. Meine Oma nannte das leichtsinnig, weil man in der Zeit den ganzen Laden ausräumen könnte. Aber in der Stadt kam keiner, weil jeder schon da war. An jedem Tisch standen Leute, die was kaufen wollten und Leute, die was verkaufen wollten. Meine Oma hat gesagt, das sind die, die was anbieten. Sie hat zum Beispiel gefragt:

„Was haben Sie denn anzubieten, gute Frau?“ Und je nachdem, was es war, hat es sie überzeugt oder nicht. Wenn sie sagte:

„Das überzeugt mich nicht!“ dann war das immer das Signal, zu gehen. Wenn sie sagte:

„Das überzeugt mich durchaus nicht!“ dann dauerte es noch eine Weile; aber meistens sind wir dann auch gegangen, ohne dass sie was gekauft hat. Wenn sie sagte:

„Nicht uninteressant.“ war ein gutes Zeichen, das in Richtung Kaufen ging. Und wenn sie dann noch ein „junger Mann“ oder „gute Frau“ daran hängte, war der Handel perfekt, wie meine Oma immer sagte. 

Nun hat sie mich durch das Kaufhaus gezerrt, und gefragt:

„Also, was wünschst du dir jetzt?“ Und bevor ich sagen konnte: „Einen roten Ball mit weißen Punkten und einen Ranzen“ waren wir schon an einem anderen Stand. Ich habe meinen Satz trotzdem noch zu Ende gesagt und wusste gar nicht, ob sie ihn noch gehört hat, aber auf einmal standen wir vor einem riesigen Drahtkorb mit lauter Bällen drin. Und ganz unten lag ein roter mit weißen Punkten drauf. Meine Oma hat einen Ball genommen, daran gerochen und gesagt:

„Stinken!“ 

Sonst nichts. Die Bälle hatten tatsächlich einen besonderen Geruch. Irgendwie rochen viele Sachen so, die neu waren, aber ich mochte den Geruch. Ich mochte den Glanz, die kräftigen Farben, das kugelige Rund und wie sie hüpften. Ich mochte Bälle und vor allem neue. Der da unten mit dem leuchtenden Rot, der wie lackiert aussah, der war es, den ich haben wollte und der mir mehr als alle anderen gefiel. Meine Oma sagte:

„Die sind alle zu teuer und stinken.“

Und dann sind wir weiter gegangen. Das mit dem Ranzen habe ich noch gesagt, weil ich dachte, vielleicht ist das ein vernünftigerer Wunsch. Meine Oma war nämlich der Meinung, dass man sich vernünftige Sachen wünschen sollte. Und tatsächlich hat sie mich in die Lederabteilung gezogen. Hier roch es auch besonders. Das hat sogar meiner Oma gefallen. Ich war natürlich noch viel zu klein, um das beurteilen zu können, was gut für mich war und was nicht, meinte zumindest meine Oma, aber ein Ranzen lag da, der mir gefallen hätte. Er war aus rotem Leder. Rot waren fast alle Sachen, die ich mir gewünscht habe, und am liebsten habe ich rote Kleider und Pullover getragen. Obwohl meine Lieblingsfarben Blau und Grün waren. Blau, wie der Himmel im Sommer und Grün wie die Wiese. Aber eigentlich mochte ich auch Gelb. Das Gelb von den Rapsblüten oder vom Ginster im Grünen Gras vor einem blauen Himmel. Aber wenn rote Tupfen vom Mohn dabei waren, war es noch schöner. Am liebsten mochte ich also Bunt. Nur wenn ich mir was wünschte, dann war es immer Rot. Ein roter Ball, ein roter Schulranzen der so schön nach Leder duftete und ein roter Roller mit Ballonreifen und Speichen an den Rädern. Aber das konnte ich vergessen. Das war an einem normalen Geburtstag nicht drin. Ich stellte mir gerade vor, wie ich mit meinem roten Ranzen auf dem Rücken auf meinem roten Roller fuhr, und mein roter Ball mit den weißen Tupfen hinten im Gepäckträger klemmte, da hörte ich, wie meine Oma mit der Verkäuferin sprach. Ich habe nicht viel verstanden, nur manchmal ein Wort, zum Beispiel „Wucher“; das hatte meine Oma gesagt. Ich wusste jetzt, dass sie den Preis runter handeln wollte. Meine Oma stand nämlich auf dem Standpunkt, dass man schließlich nicht jeden Preis bezahlen müsste. Vielleicht bekam ich ja wenigstens den Ranzen. Aber auf einmal hat sie mich weiter gezogen, und ich habe den Ranzen auch abgeschrieben. Jetzt wollte ich gar nichts mehr, nur noch nach Hause. Meine Oma ist dann mit mir auf die Rolltreppe zu gestochen und in den Keller gefahren. Dort waren die Lebensmittel- und Haushaltswarenabteilungen und der Imbiss. Es gab da hohe runde Tische, vor denen Leute standen, die im Stehen aßen und auch ein paar niedrige zum Sitzen mit Bänken in den Ecken und Stühlen davor. Man konnte russische Eier und Würstchen und Koteletts und Salat zum Essen kaufen, aber man musste sich selbst bedienen und dann mit seinem gefüllten Tablett zur Kasse zum Bezahlen gehen. Auch Fleischsalat in Mayonnaise gab es, aber meine Oma sagte:

„Schweinefleisch ist tabu. Und Mayonnaise ist eine Riesensauerei.“ 

Ich hatte sowieso keinen Hunger. Aber meine Oma hat sich an der Lebensmittelkasse zwei Tüten geben lassen und ist von Tisch zu Tisch gegangen. Wenn die Leute die Gabel weg gelegt, aber noch was drauf hatten auf dem Teller, ist sie hin und hat gefragt:

„Essen Sie das noch?“

Und wenn die Leute den Kopf geschüttelt haben, hat meine Oma das Besteck aus dem Teller genommen und auf den Tisch gelegt. Dann hat sie den Inhalt von dem Teller in ihre Plastiktüte geschüttet. Ich habe gesehen, wie die Leute den Kopf geschüttelt und gelacht haben und habe mich furchtbar geschämt. Ich habe mich an einen Tisch gestellt, vor dem Leute standen, die mir gefallen haben und habe das Gesicht von der Frau nachgemacht, damit alle denken sollten, dass ich zu denen gehörte und nicht zu meiner Oma. Aber dann hat meine Oma durch den ganzen Raum gebrüllt:

„Wo bist, Mädele?“ Und dann hat sie mich entdeckt und wir sind die Rolltreppe hoch und aus dem Kaufhaus raus auf die Straße. Ihre Tüten waren voll. Auch ihre Taschen waren voll, und ich wusste gar nicht, was sie mit dem Zeug gemacht hat, denn essen konnte man das ganz bestimmt nicht. Ich habe einmal gesehen, dass sie das den Katzen geben wollte, aber die haben sich nur ein bisschen Fleisch raus gepickt und den Rest liegen gelassen. Einmal habe ich gehört, wie meine Mutter mit ihr geschimpft hat, und gesagt hat, dass sie es satt hat, ihre Schweinereien zu entsorgen, und ich glaube, da war das ganze Essenszeug mit gemeint, das meine Oma immer angeschleppt hat. Ich habe mir vorgestellt, dass da jetzt in den Tüten und Taschen mit ihrem ganzen anderen Kram, Kartoffelsalat und Würstchen und russische Eier und Salat mit dem Klopapier aus dem Kaffee und den Papierhandtüchern und der Seife waren. Alles zusammen gematscht und ekelhaft. Aber ich glaube, sie hat die Lebensmittel in die Tüten gepackt, und die anderen Sachen in ihre Tasche. Die war nämlich sauber und trocken, als sie später die Fahrkarten raus geholt hat, um sie dem Schaffner zu zeigen. Den Abendzug haben wir nämlich gekriegt und nachdem meine Oma durch sämtliche Klos gegangen ist und das Klopapier und die Papierhandtücher eingepackt hat, sind wir irgendwann mal bei uns im Dorf angekommen. 

Und, was soll man sagen? Am nächsten Tag hatte ich Geburtstag. Auf meinem Gabentisch lagen ein wunderschöner roter Lederranzen, genau der, der mir so gefallen hatte und ein lackroter Ball mit weißen Punkten, der so duftete, wie nur neue Bälle dufteten. Und als am Nachmittag meine Tante Zilli kam, lehnte auf einmal ein roter Roller mit Ballonreifen davor.

 

 
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D
Witzig und klug. Was für eine Großmutter! Sie haben sie sicher sehr geliebt! Das spürt man.
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